Bundespräsident Steinmeier und DT64

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede zum Deutschen Radiopreis 2019 | Screenshot: NDR

Wer: Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Was: Rede während der Veranstaltung zur Verleihung des Deutschen Radiopreises 2019
Wo: Hamburg, Elbphilharmonie, Großer Saal
Wann: 25.09.2019

Kleine Überraschung in der Rede des Bundespräsidenten: die historische Würdigung von DT64 ab Minute 10:37 Uhr.

(Redemanuskript)

Einladungen hierher, nach Hamburg, in die großartige Elbphilharmonie kann man ohnehin nur schwer ablehnen. Aber zu dieser habe ich besonders gern Ja gesagt. Ich freue mich, ein Medium ehren und feiern zu können, auf das jedenfalls ich nicht verzichten wollte: das Radio.

Entgegen anderslautenden Behauptungen hören auch Personen des sogenannten öffentlichen Lebens – sogar die aus der Politik – gern einfach einmal zu. Und bei welcher Gelegenheit könnten sie das besser als beim Radiohören. Man darf dabei schweigen, sich informieren, amüsieren, freuen oder ärgern – in jedem Fall ist es erholsam, einmal nicht selbst reden zu müssen, gefragt zu werden oder es zu sein.

Man kann das Zuhörenkönnen gar nicht hoch genug schätzen. Es hilft, Antworten zu finden. Und besonders wer ständig gefordert ist, auf Fragen zu antworten, sollte jedenfalls vorher gut zugehört haben.

Ich will nicht behaupten, dass mir alles, was Sie uns so zu Gehör bringen, gefällt. Aber stellen wir uns vor, es wäre so: es würden nur Musik, Unterhaltung und ausgewählte Nachrichten gesendet, die dem Staatsoberhaupt gefallen. Wir würden einander ziemlich sicher langweilen, niemand wollte mehr zuhören, und vermutlich würde nicht einer von Ihnen heute hier mit einem Preis für seine Arbeit ausgezeichnet.

Deshalb: Ob mir eine Nachricht gefällt oder nicht, ich will sie hören. Zuhören macht uns nicht immer schlauer, aber niemals dümmer. Und das Radio will nichts weiter von mir als meine Aufmerksamkeit.

Sie könnten mich auch fragen, warum ich gern Zeitung lese. Selbstverständlich, weil ich gern lese, was ich lesen will. Aber tatsächlich auch und vielleicht sogar noch mehr, weil ich immer mehr lese als ich will. Ich lese, was ich gar nicht gesucht oder erwartet habe:

das Überraschende, das Unerwartete. Das ist das Spannende. Soziale Medien sind anders. Sie bestätigen in aller Regel meine eigene Haltung; Streamingdienste meine Neigungen und Vorlieben – selbst die musikalischen. Gutes Radio ist anders. Es ist wie Zeitung: Musik, Nachrichten, Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur in bunter Folge. Ich versichere Ihnen, irgendwas von dem bleibt immer hängen. Sickerwissen nenne ich das: nützliche Ablagerungen, gebildet aus mehr oder weniger zufälligen und überraschenden Hörerlebnissen.

Das funktioniert und es nützt. Ich habe da sehr lange Erfahrungen. Zu meiner Schulzeit lief, wenn ich mittags nach Hause kam, das Mittagsmagazin auf WDR 2. Von 12 Uhr bis 14:30 Uhr. Danach kam der Ratgeber. Wenn ich zurückdenke: Die Stimmen von Dieter Thoma in den späten Siebzigern oder Ulrike Wöhning in den frühen Achtzigerjahren – an die sich vermutlich nur noch die erinnern werden, die genauso weißhaarig sind wie ich – diese Stimmen habe ich immer noch im Ohr. Vierzig Jahre ist das jetzt her. Damals ist eine Radioleidenschaft geboren und erhalten geblieben.

Gelegenheiten, Radio zu hören, habe ich auch heute noch sehr häufig, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin. Das einzige Problem: Ich muss die Jury vom richtigen Programm überzeugen.

Diese Jury besteht aus drei Personen: meiner Frau, mir – und am Ende natürlich auch dem Fahrer. Wenn ich mich durchsetzen kann, dann gibt es Wortprogramme und Nachrichten tagsüber – im Land unterwegs, auf dem Weg zu Terminen. Und abends, auf der Rückfahrt Barjazz zum Runterkommen.

Der Unterschied ist: Läuft Jazz im Radio, höre ich das gern und in der Regel mit Genuss. Dass Nachrichten mir wie Musik in den Ohren klingen, passiert eher selten.

Doch darauf kommt es nicht an: Die Form, in der mich die Nachricht erreicht, die ist mir wichtig. Ich höre viele Moderatoren und Korrespondenten gern. Viele kenne ich von gemeinsamen Reisen ins Ausland. Mit vielen habe ich gesprochen, nicht nur in Interviews. Und deshalb weiß ich, wie ernst sie ihre Arbeit nehmen, um seriöse Berichterstattung abzuliefern. Ich weiß, ich bin gut aufgehoben, ich bin es als Bürger, der sich informieren will, und ich war es als Politiker, weil ich mich auf eine kritische, aber faire Berichterstattung verlassen konnte.

Das Vertrauen, das auf diese Weise entsteht, vor allem das Vertrauen Ihrer Hörerinnen und Hörer ist kostbar. Sie haben einen ganz besonderen Zugang zu Menschen. Für viele sind Sie diejenigen, die die Meinung der Hörer im Alltag prägen. Sie dürfen in ihr Ohr, in ihren Kopf und manchmal auch in ihren Bauch. Deshalb: Gehen Sie verantwortungsvoll und sehr sorgsam damit um. Glauben Sie mir, Fehler versenden sich nicht. Fällt mir als Hörer ein Fehler auf, der nicht korrigiert wird, dann frage ich mich sofort: War das alles, oder ist vielleicht noch etwas falsch? Deshalb, glauben Sie mir, nicht die Schnelligkeit, das Vertrauen ist Ihr höchstes Gut. Erhalten Sie sich das Vertrauen Ihrer Hörer!

Mir ist wichtig, mich jederzeit vertrauensvoll meinem Sender überlassen zu können, der mich zuverlässig informiert und nicht nur mit Nachrichten versorgt, sondern die Nachrichten, die ich höre, auch einordnet. Und ebenso freue ich mich, immer und überall die Musik hören zu können, die mir die liebste ist.

Eine Selbstverständlichkeit für uns und heute, die doch keine Selbstverständlichkeit ist. Nicht überall auf der Welt und nicht immer. Allzu lange ist es noch nicht her, dass wir weder das eine noch das andere hören konnten. Wir wissen um die Zeit in Deutschland, in der Jazz als entartete Musik galt, und eine freie und unabhängige Berichterstattung nicht nur unerwünscht, sondern gefährlich war und am Ende ganz verstummte.

Das eine war die Bedingung des anderen: Wo es keine Freiheit der Kunst gibt, wo die Zensur entscheidet, was wir lesen oder hören sollen, da kann es keine freie Berichterstattung geben. Und wo Journalisten nicht sagen oder schreiben dürfen, was sie beobachtet und recherchiert haben, da wird auch die Kunst geknebelt.

Inzwischen müssen wir nicht nur auf Orte außerhalb von Europa schauen, auch innerhalb Europas gibt es wieder Orte, an denen die Freiheit der Berichterstattung eingeschränkt ist. Und auch das ist wahr: Nichts ist gefährlicher für jede Art des Ausdrucks, als die Anbiederung an staatliche Gewalt, an Ideologien oder den sogenannten Zeitgeist. Das ist keine Aufforderung, unpolitisch zu sein oder gar, sich im Seichten zu verlieren. Der reine Dudelfunk wird sich gegen Spotify und andere nicht behaupten, und wenn noch so viele Gewinnspielchen ins Programm eingestreut werden. Muten Sie den Hörern ruhig zwischendurch ein paar Sätze zu, die bei der Orientierung im unübersichtlichen Gelände des alltäglichen Wahnsinns helfen.

Meine Damen und Herren, Ihre Vorgänger in den Musik- und Nachrichtenredaktionen hatten in den frühen Jahren der Bundesrepublik großen Anteil daran, dass die Deutschen „in the mood“ gebracht wurden für die Vorzüge von Freiheit und Demokratie.

Und auch jenseits des Eisernen Vorhangs hatte man offenbar verstanden, dass Westmusik nicht einfach abzustellen war. Ich jedenfalls erinnere mich an die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um den Ostberliner Jugendsender DT64 vor und nach dem Mauerfall. Er war lange Jahre der einzige Sender, der Rock, Pop und andere populäre Musik im Programm hatte. Er war ein Ventil und der Staatsführung ebenso lange ein Dorn im Ohr.

Rock und Pop war verdächtig. Der Sound der Freiheit ängstigte die, die mit Freiheit nichts am Hut hatten. Das elfte Plenum des ZK der SED jedenfalls schon 1965, im Jahr nach der Gründung von DT64, als es feststellte, der „schädliche Einfluss“ von Beatrhythmen „auf das Denken und Handeln von Jugendlichen“ sei „grob unterschätzt“ worden. Deshalb hat es lange gedauert, bis Udo Lindenberg kommen durfte und die Scorpions „Wind of Change“ pfeifen konnten.

Wirklich schaden konnte dieses Verdikt Erich Honeckers dem Sender dennoch nicht. Er wurde mal bedrängt, mal nicht, existierte aber weiter und sendete in Konkurrenz zum SFB und RIAS. Als nach dem Fall der Mauer vor bald 30 Jahren die Frequenzen außerhalb Berlins RIAS übergeben werden sollten, protestierten die Hörer so unüberhörbar, dass der Handel schon am nächsten Tag rückgängig gemacht wurde. Ich finde: eine schöne Geschichte ostdeutscher Selbstbehauptung.

Deshalb: Das Radio hat Einfluss. Man kann ihn nutzen, im Guten wie im Bösen. Das Radio kann ein kleiner brauner Volksempfänger sein, aus dem nur eine Stimme dröhnt – oder ein Medium, das jede und jeden zu Wort kommen lässt, das überall hingeht und überall gehört wird, ein Radio, das die ganze Vielfalt unserer Lebenswelten zu Klang und Sprache bringt.

Dieses Radio meine ich. Ich meine das Radio, das ein wichtiges, ein unverzichtbares Medium unserer Demokratie geworden ist. Das Radio, das auf spektakuläre Bildsprache verzichten muss, das dafür aber umso mehr Raum hat, uns zum Lachen, zum Nachdenken, zum Weinen oder zum Träumen zu bringen. Ich freue mich darauf, heute Abend viele Preisträgerinnen und Preisträger kennenlernen zu dürfen, die eben dieses Radio repräsentieren, das ich schätze und liebe.

Herzlichen Dank Ihnen fürs Zuhören. Und herzlichen Glückwunsch allen Preisträgern!

(Quelle: Bundespräsidialamt)